Ein deutliches Zeichen, dass wir nicht 100% im Einklang mit uns selbst handeln, sind wiederkehrende Situationen, welche viel Kraft rauben, uns irgendwie ermüden – ohne uns weiterzubringen. Kennst du es auch? Dieses latente Gefühl von Unwohlsein, das uns beschleicht, wenn wir halbherzig zu einer Bitte oder einem Vorschlag »Ja« sagen. Vielleicht aus Höflichkeit. Vielleicht, weil wir das Gegenüber nicht enttäuschen wollen. Oder, weil wir aus Angst vor Ablehnung kein klares »Nein« über die Lippen bringen. Damit begeben wir uns in Situationen, in denen wir eigentlich nicht sein wollen. »Gesunde Grenzen« setzen zu können, gehört entscheidend zu einem glücklichen und integrierten Leben dazu. Sie sind Ausdruck von gelebtem Selbstbewusstsein. Aber oft ist das nicht so einfach.

Den eigenen Bedürfnissen Raum geben und »Nein« sagen

Was selbstverständlich klingt, kann im Einzelfall zu einem Balanceakt werden: das simple »Nein«. Warum das so ist und was uns daran hindert, dazu komme ich später noch. Lass uns damit anfangen, zu klären, wie du zu einem authentischen »Nein« kommst, das – wertschätzend und empathisch hervorgebracht – nicht verletzend ist. Ich habe für dich dazu fünf Schritte formuliert:

Schritt 1: Was möchte ich wirklich?

Manchmal vergessen wir im Strudel all der Anforderungen, welche an uns herangetragen werden, was wir eigentlich wollen. Es ist wichtig, immer wieder einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen: »Fühlt sich das für mich stimmig an?«. Um etwas Zeit zu gewinnen, kannst du zunächst antworten: »Ich überlege es mir.«. Bleibe bei dir und spüre in dich hinein. Was löst die Bitte oder die Frage deines Gegenübers bei dir aus? Willst du es überhaupt? Setzt sie dich unter Druck? Wie fühlt sich für dein Bauchgefühl ein »Ja« an? Nimm dir einen Moment bewussten In-Dich-Hineinspürens. Sei achtsam und mache eine aufrichtige Bestandaufnahme deiner Bedürfnisse.

Schritt 2: Klar antworten

Bestimmt und ohne langwierige Erklärungen antworten à la «Leider kann ich dir am Wochenende nicht helfen.« reicht völlig aus, um deine Position freundlich zu vertreten. Wenn du dich jetzt in ausschweifenden Rechtfertigungen verhedderst, fürchtest du dich insgeheim vor den Konsequenzen deines »Nein«. Vergiss nicht, dass du deine eigenen Entscheidungen treffen darfst und diese auch leben. Viele von uns quälen unbewusst Zweifel wie »Habe ich überhaupt das Recht, mich abzugrenzen?« Ja, das hast du! Abgrenzung ist ein wesentlicher Teil der Selbstfürsorge. Fasse dich kurz, kommuniziere zugewandt und verzichte auf künstlich konstruierte Ausreden. Vor allem durch letztere wirst du dir selbst nicht gerecht, machst dich klein und verunsicherst zusätzlich dein Gegenüber.

Schritt 3: Den richtigen Zeitpunkt wählen

Das erste »Nein« ist das Beste, so formuliert schon der Volksmund. Nach einem vorschnellen »Ja« fällt es schwerer, wieder zurück zu rudern. Dabei spielt auch das Timing eine Rolle. Übergeht man den ersten Impuls, sich aufrichtig abzugrenzen, wird es schnell emotional kompliziert. Gefühle wie Ärger, Scham oder Angst verhindern, gelassen und überzeugend »Nein« zu sagen.

Schritt 4: Bitte respektiere meine Entscheidung zum »Nein«

Hat der Fragende auf ein »Ja« gehofft, ist er/sie möglicherweise jetzt enttäuscht. Je nach Persönlichkeit können Überredungsversuche, passive Aggression oder im schlimmsten Fall offene Wut folgen. Hier kann es hilfreich sein, aktiv zu betonen, wie wichtig es für dich ist, dass deine Grenzen respektiert und akzeptiert werden. Achte besonders darauf, dass manche ein situatives »Nein« als totale Ablehnung ihrer Person missverstehen und entsprechend harsch reagieren. Mach dir klar, dass dahinter tiefergehende persönliche Themen stecken, welche nicht in deiner, sondern allein in der Verantwortung des Gegenübers liegen.

Schritt 5: Sieh dein Gegenüber als Person

Empathie spielt auch beim Abgrenzen eine entscheidende Rolle. Schließlich geht es ja nicht darum, das Gegenüber zu verletzen, wenn wir unsere eigenen Grenzen wahren. Versetze dich in die Lage des/der Anderen hinein, nimm ihn/sie war, aber mach deutlich, dass es nicht deine Verantwortung ist. Signalisiere mit Sätzen voller Wertschätzung, dass du den anderen Menschen und seine Bedürfnisse siehst und anerkennst: »Ich kann verstehen, dass es für dich schwierig ist und ich helfe dir sehr gerne, doch für dieses Projekt möchte ich mir die Kapazitäten nicht nehmen«. Dadurch bekommt deine Abgrenzung eine selbstbewusste und gleichermaßen respektvolle Resonanz.

Warum fällt Abgrenzung manchmal so schwer?

Ist es nicht seltsam? »Nein« sagen ist doch etwas ganz Normales. Dennoch haben wir das Gefühl, uns dafür entschuldigen zu müssen. Was bringt uns dazu »Ja« zu sagen, wenn wir eigentlich »Nein« meinen? Damit setzen wir uns meist selbst unter Druck und handeln dem eigenen Gefühl zu wider sowie unsere Zeit- oder Kraftressourcen. Eigentlich wissen wir doch, wie wichtig es ist, gut für sich selbst zu sorgen. Das ist die Basis für innere Balance, Zufriedenheit und echte Beziehungsfähigkeit. Denn nur wer beherzt »Nein« sagen kann, sagt auch beherzt »Ja«. Warum also fällt es uns so schwer, endlich die Verantwortung für uns selbst zu übernehmen und nicht für die Gefühle der anderen?

Ängste als Motiv, immer »Ja« zu sagen

Meistens spielen bei fehlender Abgrenzung Ängste eine Rolle. Wir Menschen als soziale Wesen wünschen uns, geschätzt und geliebt zu werden sowie Teil einer Gemeinschaft zu sein. In dem Moment, indem wir uns abgrenzen müssen, klopfen Ängste an: die Angst vor Ablehnung, die Angst, nicht zu gefallen, die Angst vor dem Alleinsein. Es kann passieren, dass wir vergessen, wie wichtig gesunde Abgrenzung ist. Wem das nicht gelingt, wer ständig seine eigenen Bedürfnisse übergeht, schwächt sowohl seine Gesundheit als auch seinen Selbstwert. Und öffnet Tür und Tor für (Selbst-)Ausbeutung. Ein klares »Nein« ist zudem entscheidend, um respektiert zu werden, konfliktfrei zu kommunizieren, authentisch zu sein und damit selbstbewusst zu handeln.

Folgendes Gedankenspiel ist hilfreich, um eine mögliche versteckte Dynamik zu erkennen: Stell dir folgende Ausgangsfrage und entwickle auf der Basis weitere Fragen und Antworten: »Warum kann ich im Job nicht »Nein« sagen und übernehme ständig Zusatzaufgaben? Weil ich will, dass mein Chef mich schätzt. Warum will ich, dass mein Chef mich schätzt? Weil ich Angst vor einer Kündigung habe. Warum habe ich Angst vor einer Kündigung? Weil ich kein Vertrauen in meine Leistung habe. Warum habe ich kein Vertrauen in meine Leistung? Weil ich chronisch das Gefühl habe, nicht gut genug zu sein.« Bääm! Da ist es, das Thema, das dahinter steht. So kann man sich selbst verdeckte Muster bewusst machen. Vielleicht bist du in einer anderen Situation und startest deshalb mit einer anderen Frage. Diese Zwiebeltaktik hilft ganz gut dabei, ein Thema herauszuschälen, das uns bisher nicht so deutlich vor Augen stand. Probiere es einfach aus.

Wenn wir uns also damit auseinandersetzen, warum wir es vielleicht manchmal nicht schaffen, zu 100 Prozent zu uns zu stehen, kommen wir uns selbst auf die Schliche. Es ist wichtig, sich klar zu werden, warum man nicht »Nein« sagen will. Vielleicht, weil man gefallen will oder Angst davor hat, nicht mehr gemocht zu werden? Wenn wir uns die unbewussten Gründe vor Augen führen, können wir besser darauf reagieren. Liebevolle Akzeptanz unserer eigenen Person mit all ihrem So-Sein ist die Voraussetzung für ein selbstbestimmtes und glückliches Leben. Je achtsamer wir mit uns selbst umgehen, je klarer wir handeln, desto mehr Vertrauen wird uns instinktiv unsere Umwelt entgegenbringen – und zwar unabhängig davon, ob wir auf eine Frage mit »Ja« oder mit »Nein« antworten. 

Achtsamkeit im Business

Der Einfluss von Kindheit, Erziehung und Rollenbildern

Wer sich nicht abgrenzt, lässt sich schnell ausbeuten. »Nein« sagen heißt, die eigenen Grenzen zu respektieren. Wer die Prioritäten anderer ständig über die eigenen stellt, wird nicht nur unzufrieden, sondern mit der Zeit ernsthaft krank. Abgrenzung lernen wir schon in der Kindheit – und zwar intuitiv durch das, was uns vorgelebt und vermittelt wurde.

Wer Eltern hatte, die regelmäßig die Grenzen des Kindes überschritten haben, hat auch als Erwachsener mehr Probleme, »Nein« zu sagen. Übergriffige Eltern, die schreien oder ihre Kinder als Erziehungsmaßnahme körperlich züchtigen, erschweren oder verhindern die Ausprägung eines stabilen Selbstwertes. Auch, wenn die Eltern ihr Kind nicht so lieben, wie es ist, sondern die Zuneigung unter Bedingungen stellen, hemmen sie die Entwicklung eines gesunden Selbstwertes. Wird elterliche Akzeptanz beispielsweise an Leistung gekoppelt, macht das Kind die Erfahrung, dass es sich Liebe erarbeiten muss und nicht um seiner Selbst willen geschätzt wird. Das führt dazu, dass sich solche Menschen – oft trotz herausragender Leistungen – lebenslang minderwertig fühlen. Das Selbstbewusstsein leidet. Letzteres ist die Basis für die Fähigkeit, seine eigenen Grenzen zu erkennen und zu schützen. Auch, wer im Elternhaus erlebt hat, dass eigene Entscheidungen mit Liebesentzug bestraft werden, entwickelt das Gefühl, sich nicht abzugrenzen zu dürfen – aus Angst vor Verlust der Bindung.

Besonders betroffen sind Kinder mit einem narzisstisch veranlagten Elternteil. Gegen die manipulativen Verhaltensweisen von Menschen mit dieser Persönlichkeitsstörung ist es gerade entscheidend, klar und deutlich Grenzen aufzuzeigen. Kinder haben keine Möglichkeit, sich von ihren Eltern zu distanzieren. Im Erwachsenenalter können Söhne und Töchter von Narzisst*innen nur mit therapeutischer Hilfe lernen, alte Muster loszulassen und neue Handlungsweisen zu wagen. So geraten die so geprägten Söhne und Töchter als Erwachsene häufig in einen Wiederholungszwang, sich ihrerseits narzisstische Partner zu suchen und das Leid ihrer Kindertage reinszenieren. Solange, bis sie sich entscheiden, aus dem Teufelskreis auszusteigen und ins persönliche Wachstum zu gehen – meist mit Unterstützung von Psycholog*innen. Bedenkt man, dass Menschen, die sich nicht abgrenzen, oft ein hohes Einfühlungsvermögen haben, wird spürbar, dass das eine große Hypothek für ein glückliches Leben ist.

Weiterhin kann auch die geschlechterspezifische Erziehung einen Einfluss haben. Besonders bei Frauen lässt sich häufig das Phänomen chronischer Überlastung beobachten. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass es vielen Frauen schwerer als Männern fällt, eine Bitte abzuschlagen. Die Erziehung zum »fleißigen, braven Mädchen«, tradierte Rollenbilder und die Beobachtung, dass Frauen häufig den sog. »mental load« in Familien übernehmen, können in die Erschöpfung führen.

Mädchen wird früh vermittelt, dass sie sich hilfsbereit und freundlich um ihre Mitmenschen kümmern sollen und dass es wichtig ist, gut anzukommen. Energisches Auftreten wird als unweiblich boykottiert, Höflichkeit und Bescheidenheit hingegen werden gelobt. Als Erwachsene erwarten Frauen dann all das von sich selbst. Sie haben verinnerlicht, dass sie eine soziale Ader haben müssen.

Häufig fühlen sie sich für die Termine der Familienmitglieder, die Pflege der Kontakte, für den Haushalt und überhaupt für das Wohlergehen aller verantwortlich.

Auch, wenn der Ehemann auf Bitte den Rasen mäht, haben sie dennoch das Gefühl, dafür sorgen zu müssen, dass alles läuft – oft zusätzlich zum eigenen Job. In diesem Mindset ist es nicht möglich, sich ein »Nein« zu erlauben. So reagieren sie auf kleinste Widerstände des Gegenübers sofort mit Verzicht auf die eigene Position.

Die rollenbasierte Erziehung fördert also ein Selbstverständnis von Frauen, das in den Burnout führen kann. Frauen definieren ihren Wert häufig über die Akzeptanz ihrer Mitmenschen und darüber, wie sozial sie sich verhalten. Das nennt man in der Psychologie »Geltungshierarchie«. Sie legen Wert auf Harmonie und Verbundenheit. Männer hingegen verorten sich tendenziell stärker in einer sog. »Dominanzhierarchie«. Für sie ist es ausschlaggebend, Vorteile zu haben und weniger entscheidend, gemocht zu werden. So kommt es, dass Frauen häufiger als Männer geradezu süchtig danach sind, gebraucht zu werden. Auch dafür kennt die Verhaltenspsychologie einen Begriff: Das sog. »Helfersyndrom« führt dazu, dass Menschen sich überfordern und viel mehr geben als sie zurückbekommen. Häufig steckt ein geringes Selbstwertgefühl dahinter, das diese Verhaltensweise fördert.

Gewissenbisse und Schuldgefühle sowie die Angst, nicht perfekt zu sein, bauen bei Frauen zusätzlich Hemmschwellen auf. Es wurde einfach nicht vermittelt, wie wichtig es ist, sich im konstruktiven Sinn, zuallererst um sich selbst zu kümmern. Dass es entscheidend für ein gesundes und glückliches Leben ist, die eigenen Grenzen zu wahren. Glaubenssätze wie »Ich darf nicht so egoistisch sein.«, »Ich möchte keinen Konflikt durch das »Nein«-Sagen.«, »Ich will doch aber hilfsbereit sein, das schaffe ich jetzt auch noch.« hindern Frauen daran, sich abzugrenzen.

Bis hierher und nicht weiter – Selbstverantwortung stärkt das Selbstvertrauen

»Es gibt kein richtiges Leben im falschen.«
Theodor W. Adorno

Selbstverantwortliches Handeln bedeutet manchmal, einen unbequemeren Weg zu gehen. Spannungen in Kauf zu nehmen. Eben den eigenen Weg zu gehen, der sich richtig anfühlt und zu einem erfüllten, authentischen Leben führt. Ein Leben, in dem wir in unserem vollen Potenzial stehen, in Harmonie mit unseren Bedürfnissen handeln und uns nicht als ewiger »Ja-Sager« selbst ausbeuten und verschleißen. Seine Grenzen zu kennen, zu wahren und zu leben ist die Voraussetzung für Selbstbewusstsein und damit Selbstbestimmung. Wer zu dem steht, was er tut, übernimmt Verantwortung für sein Handeln und erspart sich chronische Ohnmachts- sowie Schamgefühle, welche im schlimmsten Fall zu Depressionen führen können. Für eine konstruktive Art von Abgrenzung muss man konsequent bei sich sein und sich achtsam immer wieder die eine Frage stellen: »Fühlt sich diese Situation für mich stimmig an?«. Für sich selbst zu sorgen und glaubwürdig zu agieren sind in jeder Beziehung wichtig. Gesunde Grenzen stärken die eigene Identität und führen dazu, dass unsere Mitmenschen uns schätzen und respektieren. Auch im Job kann es ein Pluspunkt sein, ein Projekt oder eine Aufgabe abzulehnen. Das zeigt, dass man weiß, wer man ist und Prioritäten setzt. In Freundschaften sollte es selbstverständlich sein, dass Niemand rund um die Uhr verfügbar ist. Wer zu sich steht und sich klar und empathisch verhält, handelt authentisch und schafft dadurch Vertrauen. Denn soviel ist sicher: Letztlich stärkt Abgrenzung die Verbundenheit anstatt sie – wie fälschlicherweise befürchtet – zu gefährden.

 

Welche Erfahrungen hast du mit »Nein«-Sagen gemacht?

Gibt es etwas, das dich rund um »Abgrenzung« besonders beschäftigt?